Auch wenn die deutsche Kanzlerin und die Europäische Kommission noch so viel Aktionismus verbreiten: Den tatsächlichen Verlauf der Kurse am Aktien- und Geldmarkt bestimmen ganz andere „Spieler“ in diesem Global-Game. Das theoretische Rüstzeug um hinter die Kulissen des Turbo-Kapitalismus zu blicken kann man sich mühselig im BWL-Studium zu erarbeiten – oder spielerisch-vergnüglich bei der Lektüre eines utopischen Romans.
Die Rede ist von „Atlas Shrugged“, dem Opus Magnum der amerikanischen Philosophin und Schriftstellerin Ayn Rand (1905 – 1982). Rand hat außer mit ihren Drehbüchern und Romanen vor allem als Begründerin des „Objektivismus“ Aufsehen erregt; zu ihren Anhängern gehört unter anderem der ehemalige US-Notenbank-Chef Alan Greenspan.
„Atlas Shrugged“ gehört seit seinem ersten Erscheinen 1957 zu den meistverkauften – und, was viel wichtiger ist: zu den meistgelesenen – Titeln der amerikanischen Literatur. Laut Publishers Weekly gingen auch 2009 allein in den USA wieder mehr als 150.000 Exemplare über den Ladentisch.
Worum geht es in „Atlas Shrugged“?
In einer nicht allzu fernen Zukunft nehmen die sozialen und politischen Probleme in den USA geradezu groteske Ausmaße an. Eine Koalition aus „Gleichmachern“ und sogenannten „Volksfreunden“ übernimmt die Macht und verwandelt die freie Marktwirtschaft in eine korrupte Planwirtschaft. Während einige Firmen als „systemisch“ gefördert werden, verlieren die meisten anderen ihre Unabhängigkeit und werden von ihren von der Regierung gegängelten Bossen und Managern verlassen. Die Führungsriege zieht sich zurück und sammelt sich um den geheimnisvollen John Galt. Dieser hat in einem abgelegenen Tal in den Rocky Mountains eine utopisch-kapitalistische Mustergemeinde errichtet, in der nur ehrliche Arbeit zählt.
John Galt wendet sich schließlich über das Radio an die Nation. Er erläutert seine Philosophie in einer mehrstündigen Vorlesung, während der er die „Weltverschwörung der Ignoranz“ anprangert und erklärt, erst nach dem vorherzusehenden baldigen Zusammenbruch sei die Welt bereit, sich von der Manager-Elite und dem Großkapital in eine neue, strahlende Zukunft führen zu lassen.
Stilistisch ist das Buch eine Mischung aus Liebes-, Abenteuer- und Zukunftsroman, vermengt mit Wirtschaftstheorie und Philosophie. Ayn Rand erweist sich als ausgezeichnete Erzählerin, die weiß, wann sie das Tempo anziehen muss, wann sie dem Leser Verschnaufpausen gönnen kann, und wie viel theoretische Abhandlung ein Text verträgt. „Atlas Shrugged“ gehört zu einer äußerst seltenen literarischen Gattung: der positiv gestalteten kapitalistischen Utopie. Sein überwältigender Erfolg, vor allem in den USA, ist zum großen Teil darauf zurückzuführen, dass in ihm alle Saiten der amerikanischen Volksseele zum Klingen gebracht werden: Unabhängigkeit des Einzelnen, Misstrauen gegen die Regierung, Glaube an die Macht des Geldes – und nicht zuletzt die romantische Hoffnung auf das persönliche Glück.
In Deutschland ist der Roman dagegen fast völlig unbekannt geblieben. Obwohl es mehrere Ausgaben unter den zwei Titeln „Atlas wirft die Welt ab“ und „Wer ist John Galt?“ gibt, fand das Werk hierzulande kaum Beachtung. Leider ist momentan auch keine der beiden Ausgaben über den normalen Buchhandel lieferbar, sodass nur der Gang in eine gutsortierte öffentliche Bibliothek oder ins Antiquariat bleibt.
Wer wissen will, wie die „Herren im grauen Anzug“ wirklich denken, kann sich durch die Lektüre von „Atlas Shrugged“ einen fundierten Einblick verschaffen.
Herrmann Ibendorf
Für Datenhungrige:
ATLAS SHRUGGED. Originalausgabe 1957
ATLAS WIRFT DIE WELT AB. Roman.
Ü: Hansjürgen Wille und Barbara Klau,
Baden-Baden, Holle, 1959, 1200 S.
WER IST JOHN GALT?
Ü: Hansjürgen Wille und Barbara Klau
Überarbeitung: Werner Habermehl,
Hamburg, GEWIS, 1997, 1250 S.