Die Geschichte vom „letzten Menschen auf der Welt“ existiert vermutlich seitdem überhaupt Geschichten erzählt werden. Vor allem in den Jahren nach 1945, ausgelöst durch die Atombombenabwürfe über Japan, bildete sich fast ein eigenständiges Genre solcher Erzählungen heraus. Zu den bekanntesten Vertretern dieser Gattung gehören ICH, DER LETZTE MENSCH (1954, Originaltitel: I AM LEGEND, mehrfach verfilmt) von Richard Matheson, SCHWARZE SPIEGEL (1951) von Arno Schmidt und DIE WAND (1963) von Marlen Haushofer.
Die österreichische Schriftstellerin Marlen Haushofer (1920 – 1970) war es auch, welche diesem literarischen Motiv ein weibliches Gesicht verlieh. Bis zum Erscheinen ihres Romans waren es nämlich vor allem (wenn nicht gar ausschließlich) Männer gewesen, die sich als die letzten ihrer Art sahen.
Die Berichterstatterin in DIE WAND ist eine namenlos bleibende Frau mittleren Alters, die eines Morgens aufwacht und sich nicht nur von dem befreundeten Ehepaar bei dem sie übernachtet hat alleingelassen findet, sondern bei näherer Erkundung der Umgebung auch erkennen muss, dass sie unter einer unsichtbaren, nichtsdestotrotz undurchdringlichen Kuppel gefangen ist. Während innerhalb dieser „Glasmauer“ alles „normal“ erscheint, gibt es „draußen“ offenbar keinerlei Leben mehr.
Über mehrere Jahre hinweg fristet sie ein entbehrungsreiches, arbeitsintensives Robinson-Leben, als „Gefährten“ besitzt sie lediglich einen Hund, eine Katze, eine Kuh und einen Stier. Ab und an zeigen sich einige Vögel, doch von der Welt jenseits der Wand erfährt sie nichts – und will sie auch nichts wissen. Als gegen Ende ihres Berichts plötzlich und unerwartet ein Mann auftaucht, kippt innerhalb kürzester Zeit das Geschehen gleich mehrfach: der Mann ist ein totbringender Eindringling (für Stier und Hund), der wiederum getötet werden muss, um das Überleben der Frau zu sichern. Danach ist die Trauer um den Hund größer als die um eine (theoretisch) verpasste Chance auf einen Mitmenschen. Auch das letzte Quentchen Mitgefühl ist erstorben: „Es wurde eine helle Sternennacht, und der Wind fiel kalt von den Felsen herab. Aber ich war kälter als der Wind und fror nicht.“
Es sind dies Sätze einer Prosa, die an der Oberfläche ruhig und unaufgeregt daherkommt, die Stimmungen und Gefühle in einer Art beschreibt, die eine unendliche Distanz schafft und gleichzeitig den emotionalen, fast autobiographischen Bezug der Autorin zu ihrer Figur (in anderen Werken auch zu ihren Figuren) offenlegt. Marlen Haushofer hat sich mit DIE WAND ihre verwundete Seele aus der Brust gerissen und sie ihren Lesern dargebracht – die dieses Opfer natürlich erst Jahrzehnte nach ihrem frühen Tod annahmen.
Herrmann Ibendorf
Für Datenhungrige:
Deutsche Erstausgabe:
Marlen Haushofer
DIE WAND. Roman.
Gütersloh, Mohn, 1963, 265 S.
Taschenbuchausgabe:
München, List, 2012, 288 S.
ISBN 978-3-548-61066-5
Verfilmung:
2012 von Julian Roman Polsler mit Martina Gedeck in der Hauptrolle