TEMPORAMORES, das Fachblatt für „Neues aus der Zukunft“, bringt am Ende seines stetig, aber regelmäßig unregelmäßig erscheinenden Newsletters seit mehr als zehn Jahren jeweils ein lustiges, interessantes, informatives oder nachdenklich stimmendes Zitat, zumeist aus den Texten von Schriftstellern oder Journalisten, manchmal auch aus Leserbriefen oder Filmen.
Bisher war es für den Kompilator des Newsletters eine Selbstverständlichkeit, nicht nur die Fakten über die vorgestellten Bücher so exakt wie möglich zu recherchieren und wiederzugeben, sondern auch die zitierten Stellen buchstaben- und zeichengetreu abzubilden.
Aber alle „Selbstverständlichkeit“ ist zutiefst erschüttert!
Nachdem uns im Laufe der vergangenen Woche das neueste Werk von Marc-Uwe Kling erreicht hat – ein von ihm „präsentierter“ Abreißkalender mit dem Titel DER FALSCHE KALENDER. 365 FALSCH ZUGEORDNETE ZITATE (Verlag Voland & Quist, ISBN 978-3-86391-018-1, 368 Blätter) – stellt sich die Frage nach dem Zitat, dem Zitieren und der Verlässlichkeit des Universums plötzlich ganz neu.
Erstaunlicherweise gibt es nämlich ganz offensichtlich ein Copyright auf Zitate (siehe das Impressums-Blatt des vorgenannten Werkes). Unklar bleibt allerdings, ob dies jetzt für jedes Zitat gilt, oder nur für „falsche“, d. h. „erfundene“ Zitate. Und wer hat eigentlich dieses Copyright? Der Zitierte? Der Zitierende? Der „Erfinder“? Der Originalverlag, bei dem der zitierte Originaltext erschienen ist? Der Verlag, der das Zitat abdruckt?
Doch mit solcherlei, für altgediente Juristen vermutlich noch ganz leicht erklärbaren Dingen ist nur die Spitze des Eisbergs beschrieben.
Wie sieht es z. B. damit aus, wenn ich als GermanistIn in fünf Jahren (oder in fünfzig) eine Doktorarbeit über „Das Aufkommen falscher Zitate in der bundesrepublikanischen Komik-Kunst zu Beginn des dritten Jahrtausends“ schreiben will? Sind die richtig zitierten „falschen“ Zitate dann „richtige“ Zitate? Wer prüft dann, bitteschön, ob ich die richtigen falschen Zitate richtig oder falsch zitiere, ob die ursprünglich falschen Zitate wirklich „falsch“ waren (wie peinlich ist das denn, wenn sich dann rausstellt, dass Guido Westerwelle das ihm zugeschriebene „You talkin‘ to me?“ ((17. August)) tatsächlich so und in dem unterstellten Zusammenhang gesagt hat!) – und hat eine solche falsche Zuschreibung eines richtigen Zitates als falsches dann wiederum Auswirkungen auf die oben gestellte Copyrightfrage?
Kann man mir – um die Sache noch etwas weiter zu treiben – Jahre später den Doktortitel wieder aberkennen, wenn sich herausstellt, dass ich die falschen Zitate zwar richtig zitiert habe, sie aber dem falschen Autor falscher Zitate zugeordnet habe? Werden aus solchen doppelt-falschen Zitaten damit dann richtige Zitate?
Ist es bis hierher schon unübersichtlich genug geworden, so schließen sich nun noch eine weitere existenzielle Frage an: Was ist eigentlich „falsch“ an einem „falsch zugeordneten Zitat“? Das Zitat oder der darunter stehende Name?
Bevor unsere Kolumne noch am Problem-Eisberg des richtigen und falschen Zitierens zerschellt wie die Karrieren diverser Politiker schließen wir mit einem der bekanntesten Zitate – entweder der Geistes- oder der Filmgeschichte, das bleibt dem Leser freigestellt –:
„ES GIBT KEIN
RICHTIGES
LEBEN IM
FALSCHEN“
DER TYP AUS ›MATRIX‹
(M.-U. Kling, „Der falsche Kalender“; Samstag / 28. Oktober)
Herrmann Ibendorf