Neues aus Absurdistan – 2013-02-23

 

TEMPORAMORES, das Fachblatt für „Neues aus der Zukunft“, bringt am Ende seines stetig, aber regelmäßig unregelmäßig erscheinenden Newsletters seit mehr als zehn Jahren jeweils ein lustiges, interessantes, informatives oder nachdenklich stimmendes Zitat, zumeist aus den Texten von Schriftstellern oder Journalisten, manchmal auch aus Leserbriefen oder Filmen.

Bisher war es für den Kompilator des Newsletters eine Selbstverständlichkeit, nicht nur die Fakten über die vorgestellten Bücher so exakt wie möglich zu recherchieren und wiederzugeben, sondern auch die zitierten Stellen buchstaben- und zeichengetreu abzubilden.

Aber alle „Selbstverständlichkeit“ ist zutiefst erschüttert!

Nachdem uns im Laufe der vergangenen Woche das neueste Werk von Marc-Uwe Kling erreicht hat – ein von ihm „präsentierter“ Abreißkalender mit dem Titel DER FALSCHE KALENDER. 365 FALSCH ZUGEORDNETE ZITATE (Verlag Voland & Quist, ISBN 978-3-86391-018-1, 368 Blätter) – stellt sich die Frage nach dem Zitat, dem Zitieren und der Verlässlichkeit des Universums plötzlich ganz neu.

 

 

Erstaunlicherweise gibt es nämlich ganz offensichtlich ein Copyright auf Zitate (siehe das Impressums-Blatt des vorgenannten Werkes). Unklar bleibt allerdings, ob dies jetzt für jedes Zitat gilt, oder nur für „falsche“, d. h. „erfundene“ Zitate. Und wer hat eigentlich dieses Copyright? Der Zitierte? Der Zitierende? Der „Erfinder“? Der Originalverlag, bei dem der zitierte Originaltext erschienen ist? Der Verlag, der das Zitat abdruckt?

Doch mit solcherlei, für altgediente Juristen vermutlich noch ganz leicht erklärbaren Dingen ist nur die Spitze des Eisbergs beschrieben.

Wie sieht es z. B. damit aus, wenn ich als GermanistIn in fünf Jahren (oder in fünfzig) eine Doktorarbeit über „Das Aufkommen falscher Zitate in der bundesrepublikanischen Komik-Kunst zu Beginn des dritten Jahrtausends“ schreiben will? Sind die richtig zitierten „falschen“ Zitate dann „richtige“ Zitate? Wer prüft dann, bitteschön, ob ich die richtigen falschen Zitate richtig oder falsch zitiere, ob die ursprünglich falschen Zitate wirklich „falsch“ waren (wie peinlich ist das denn, wenn sich dann rausstellt, dass Guido Westerwelle das ihm zugeschriebene „You talkin‘ to me?“ ((17. August)) tatsächlich so und in dem unterstellten Zusammenhang gesagt hat!) – und hat eine solche falsche Zuschreibung eines richtigen Zitates als falsches dann wiederum Auswirkungen auf die oben gestellte Copyrightfrage?

Kann man mir – um die Sache noch etwas weiter zu treiben – Jahre später den Doktortitel wieder aberkennen, wenn sich herausstellt, dass ich die falschen Zitate zwar richtig zitiert habe, sie aber dem falschen Autor falscher Zitate zugeordnet habe? Werden aus solchen doppelt-falschen Zitaten damit dann richtige Zitate?

Ist es bis hierher schon unübersichtlich genug geworden, so schließen sich nun noch eine weitere existenzielle Frage an: Was ist eigentlich „falsch“ an einem „falsch zugeordneten Zitat“? Das Zitat oder der darunter stehende Name?

Bevor unsere Kolumne noch am Problem-Eisberg des richtigen und falschen Zitierens zerschellt wie die Karrieren diverser Politiker schließen wir mit einem der bekanntesten Zitate – entweder der Geistes- oder der Filmgeschichte, das bleibt dem Leser freigestellt –:

„ES GIBT KEIN

RICHTIGES

LEBEN IM

FALSCHEN“

DER TYP AUS ›MATRIX‹

(M.-U. Kling, „Der falsche Kalender“; Samstag / 28. Oktober)

Herrmann Ibendorf

www.temporamores.de

 

 

Neu auf meinem Büchertisch (197)

 

 

Auch wenn der Chefredakteur Klaus Bollhöfener in seinem Editorial noch leicht selbstironisch das Thema Triskaidekaphobie kommentiert – das „verflixte 13. Jahr“ begann dann doch mit einer kleinen Verspätung. Inzwischen ist aber alles gut und das Heft 49 des Magazins phantastisch! neues aus anderen welten liegt auf dem Tisch.

 

 

Der Inhalt ist gewohnt vielfältig und breitgefächert, diesmal an einigen Stellen sogar über das Kernthema hinaus. So berichtet Achim Schnurrer in einem hervorragend recherchierten Aufsatz über eine Ausstellung des Deutschen Literaturarchivs in Marbach zum Thema „Kassiber – Verbotenes Schreiben“, in der es um den ewigen Kampf zwischen Autor und Zensur geht. In einem weiteren umfangreichen Artikel führt Schnurrer den russischen Komponisten Sergej Prokofjev als einen zu Unrecht übersehenen „Klassiker der phantastischen Literatur“ vor.

Als kleine Nachlese zum weihnachtlichen „Hobbit“-Familienfilmereignis gibt es im Heft zwei von Christian Endres betreute Beiträge, die sich mit J. R. R. Tolkiens Erstling beschäftigen: Zum einen berichten im „Dialog“ Schriftsteller, Journalisten und Künstler darüber, wie ihr erster Kontakt mit Bilbo Beutlin, dem kleinwüchsigen Helden aus Mittelerde, aussah. Zum anderen erzählt Tony DiTerlizzi davon, wie der große Maurice Sendak („Wo die wilden Kerle wohnen“) fast einmal den „Hobbit“ illustriert hätte.

In der Comic-Abteilung beschäftigt sich Sonja Stöhr diesmal sehr ausführlich mit Bill Willinghams Kult-Serie FABLES, die in den USA jede Menge Genre-Preise abräumt und auch in Deutschland bereits beim 16. Tradepaberback angekommen ist. Für den schnellen Überblick sorgt zudem ein konzentriert ausgeführter „Serien-Guide“.

In meinen „Plaudereien aus einem Bücherhorst“ wird über die „Gefährlichen Visionen“ berichtet, die Harlan Ellison 1967 und 1972 in zwei einzigartigen Anthologien unter das Leser-Volk brachte. Die besondere Würze erhält der Beitrag durch jede Menge Originalzitate Ellisons (die alle brav in Gänsefüßchen stehen, damit mir der „Dr. S.F.“ nicht aberkannt wird).

 

Die Interview-Gäste sind diesmal Bernd Perplies, Carsten Polzin, Tom & Stephan Orgel und Andrea Sorrentino. Natürlich gibt es auch noch ordentlich Rezensionen und Kurznachrichten, einen Nachruf auf Comic-Legende Joe Kubert, den 7. Teil des phantastisch!-Comics „Ein seltsamer Tag“ u.v.a.m.

Nach diesem mehr als nur gelungenen Heft, steigt die Spannung, was die Redaktion für die Jubelausgabe 50 alles bereit hält. Um das auf gar keinen Fall zu versäumen, sollte man (soweit noch nicht geschehen) unbedingt über ein Abo nachdenken. Es lohnt sich!

 

Herrmann Ibendorf

www.temporamores.de

Für Datenhungrige:

phantastisch! neues aus anderen welten

Ausgabe 1: 2013 / 13. Jahrgang / Heft No. 49

68 Seiten; 5,30 Euro

Das Magazin erscheint viermal im Jahr im Atlantis Verlag

Zukunft statt Weltuntergang

 

Nachdem die Welt jetzt doch nicht untergegangen ist (obwohl man das eigentlich erst morgen als sicher vermelden kann), gehen wir halt mal ins Museum und schauen uns an wie die Zukunft wird. Vom 23. November 2012 bis zum 10. März 2013 findet diese nämlich im Bonner Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland statt.

Unter dem Titel SCIENCE FICTION IN DEUTSCHLAND präsentiert man in der ehemaligen Hauptstadt eine aufwändig bestückte Wechselausstellung, die eine Gesamtschau des Genres unter besonderer Berücksichtigung des deutschsprachigen Beitrags zur Zukunftsgeschichtsschreibung versucht.

Begrüßt wird der Besucher von einer lebensgroßen „Alien“-Figur, die den Weg weist zum Rundgang durch ein halbes Dutzend Räume, die vom Boden bis zur Decke mit „Science Fiction“ bestückt sind. Das reicht von raren Buchausgaben der frühen Klassiker Jules Verne und Kurd Laßwitz über Filmausschnitte aus Fritz Langs Meisterwerken METROPOLIS und FRAU IM MOND bis hin zu den (inzwischen nicht mehr ganz so) aktuellen Weltuntergangsphantasien eines Roland Emmerich („2012“).

 

Beeindruckend ist die thematische Breite, die sich die Ausstellungsmacher gönnen:

 

Da gibt es eine Ecke für den Stanislaw-Lem-Klub Dresden, einen echten Stein vom Mond (eine Leihgabe der NASA), eine VW-Werbung mit deutlichen Anleihen beim ersten STAR WARS-Film, eine ganze Reihe von interaktiven Spiele-Konsolen, auf denen man sich Film- und Zeitungsausschnitte mit der „Laserpistole“ heran zoomen kann und jede Menge Spielzeug und Haushaltsgeräte mit Science-Fiction-Bezug. Viel Raum gibt es auch für Fanzines und die liebevollen und mit oftmals unglaublichem Aufwand hergestellten Raumschiff-Modelle und Bilder von Science-Fiction-Fans.

Natürlich sind auch die Hauptattraktionen dabei, die jedem einfallen, der etwas zum Thema Zukunft sagen soll: Die PERRY RHODAN-Heftchen und die Fernsehserie RAUMPATROUILLE; die Plakate und Requisiten aus dem STAR TREK-Kosmos fehlen ebenso wenig wie der röchelnde Maschinen-Atem von Darth Vaders schwarzglänzender Ganzkörperprothese und die UFO-Szenen aus den hysterischen Katastrophenfilmen des Kalten Krieges.

 

 Zur Ergänzung der Schau gibt es leider keinen Katalog und auch kaum Begleitmaterial, einmal abgesehen von den zwanzig Seiten mit Artikeln und Interviews, die das museumsmagazin (Ausgabe 4/2012) enthält.

Dafür stimmt aber das Preis-Leistungs-Verhältnis:

Der Eintritt ist frei und das Magazin gibt es im Museums-Shop für 2,00 Euro.

 

 

 

 

 

 

Wenn das so weiter geht, wird die gute alte Science Fiction eines Tages doch noch „respektabel“.

 

Herrmann Ibendorf

www.temporamores.de

Für Datenhungrige:

SCIENCE FICTION IN DEUTSCHLAND – Ausstellung

23. November 2012 bis 10. März 2013

Di–Fr  9–19 Uhr  /  Sa/So/Feiertage  10–18 Uhr / Montag geschlossen

Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland

Museumsmeile – Willy-Brandt-Allee 14 / 53113 Bonn

 

 

Neues auf meinem Plattenteller – GRRR!-eatest Rolling Stones Hits

So, jetzt also auch noch die Rolling Stones!

 

 

50 Jahre-Feiern stehen im Moment auf der Beliebtheitsskala der Öffentlichkeit und der Medien ja ganz oben: Egal ob Bundesliga, OPEL-Werk Bochum, The Beatles, Bob Dylan, Mauerbau oder John F. Kennedy-Attentat – alles historische Ereignisse, die für viele Menschen von großer bis größter Bedeutung waren (und teilweise immer noch sind). Die wenigsten dieser Ereignisse bleiben allerdings über den eigentlichen „Jahrestag“ hinaus im „Öffentlichen Bewusstsein“.

Da hilft es dann natürlich, wenn eine Band – in diesem Fall die „größte Rock’n’Roll-Band der Welt“ (unbescheidene Eigenwerbung) – ihr fünfzigjähriges Bestehen mit einer neuen Platte feiert. The Rolling Stones – wie The Beatles offiziell mit „The“ – lassen sich solch eine Gelegenheit natürlich nicht entgehen, nicht umsonst studierte Mick Jagger einst an der London School of Economics, bevor ihn das Schicksal erneut mit seinem früheren Klassenkameraden Keith Richards zusammenführte. Im Juli 1962 startete das vermutlich erfolgreichste Band-Projekt der Rock-Geschichte: The Rolling Stones hatten ihren ersten Auftritt im Londoner Marquee Club. Als Teil der „British Invasion“ eroberten sie zusammen mit den Beatles die weltweiten Musik-Charts – und im Gegensatz zu ihren alten Rivalen schafften es die Glimmer Twins (plus dem unvergleichlichen Drummer Charlie Watts) bis heute ihren „Laden“ am Laufen zu halten.

 

 

Mit GRRR! erschien im November 2012 das passende Album zur Feier ihres epochalen Erfolges. Fünfzig Songs aus fünfzig Jahren – zwei davon extra für dieses Album geschrieben und eingespielt. Was soll/kann man über ein solches grrrreatest Hits-Album sagen? Beginnend mit „Come On“ von 1962 bis zu den neuen Songs „Doom and Gloom“ und „One More Shot“ reiht sich ein Meisterwerk an den nächsten Meilenstein: Lieder, die sich ins Menschheitsbewusstsein eingeschrieben haben, Riffs, die seit ihrer Entstehung jeden Musiker, der eine elektrische Gitarre in die Hand genommen hat, beeinflussten, Melodien, die aus der Folklore selbst der entlegensten Regionen nicht mehr wegzudenken sind. Mick Jagger, Keith Richard, Charlie Watts und (seit 1975!) Ronnie Wood sind The Rolling Stones – und damit eine der wenigen Konstanten, die uns in unseren so unsicheren und bewegten Zeiten bleiben.

Thanks! And Good Luck!

 

Herrmann Ibendorf

www.temporamores.de

 

Für Datenhungrige:

The Rolling Stones

GRRR!

Polydor/Universal Music, 2012, 3 CDs DeLuxe Ausgabe

Erhältlich auch in diversen anderen Varianten

(Vinyl, DVD, Blue-Ray, Doppel-CD usw.)

 

 

Leseempfehlung: Theorie der Unbildung

von Konrad Paul Liessmann

zwar schon 2006 erschienen, ich habe es aber erst jetzt gelesen. Eine scharfe Analyse unserer Bildungslandschaft von dem bekannten Wiener Philosophen.

Meine eigenen Gedanken stets bekräftigend, aber mit schöneren Worten. Viele Schläge für PISA, Bologna und Credit Points.

Ein Lese Muss für Bildungsarbeiter und alarmierend für alle Anderen.

 

Hier zur Bekräftigung meines Lobes ein paar meiner Lieblingszitate aus dem Buch:

  weil Wissen von jedermann erworben und in den Wettbewerb geworfen werden kann, fallen endlich alle Klassenschranken, jeder ist im Besitz des wichtigsten Produktionsmittel dieser Gesellschaft: Wissen. Wer nun ans Ende der sozialen Stufenleiter gerät, kann sich nicht mehr auf Eigentumsverhältnisse, Gewalt oder Ausbeutung ausreden: er hat nur schlicht zu wenig oder zu langsam oder das Falsche gelernt.

Wer behauptet, er wisse alles, was man wissen muss, wird nicht lange warten müssen, um nachgewiesen zu bekommen, dass er vieles, was man wissen müsste, nicht weiß.

Die Aneignung von Wissen kann nicht spielerisch erfolgen, weil es ohne die Mühe des Denken schlicht und einfach nicht geht. Aus diesem Grund kann Wissen auch nicht gemanaged werden.

Der Wissensarbeiter entpuppt sich als Phänotyp eines Wandels der nicht dem Prinzip des Wissens, sondern dem der industriellen Arbeit gehorcht. Es ist nicht der Arbeiter der zum Wissenden, sondern der Wissende, der zum Arbeiter wird. Wäre es anders, würde man Unternehmen in Universitäten und nicht Universitäten in Unternehmen verwandeln.

und hier ein echter Tiefschlag:

Dass sich die einstigen Zentren des Wissens, die Universitäten, zunehmend an Unternehmensberatungen wenden, um ihre Reformprozesse begleiten und strukturieren zu lassen, zeugt nicht nur von einer erbärmlichen Anpassung an die alles beherrschende Sprache des Coaching, Controlling und Mentoring, sondern auch von einer Blindheit gegenüber einer Ideologie, deren kritische Demontage einstens zu den Aufgaben gesellschaftswissenschaftlichen Wissens gehört hätte. Wer zusieht, wie Universitätsfunktionäre jede noch so dumme ökonomistischen Phrase aus dem Repertoire der Heilslehren des New Management beflissen adorieren, muss sich über die einstige Willfährigkeit der Intelligenz gegenüber anderen ideologischen und totalitären Versuchungen nicht mehr wundern.

Marlen Haushofer – Die Wand

Die Geschichte vom „letzten Menschen auf der Welt“ existiert vermutlich seitdem überhaupt Geschichten erzählt werden. Vor allem in den Jahren nach 1945, ausgelöst durch die Atombombenabwürfe über Japan, bildete sich fast ein eigenständiges Genre solcher Erzählungen heraus. Zu den bekanntesten Vertretern dieser Gattung gehören ICH, DER LETZTE MENSCH (1954, Originaltitel: I AM LEGEND, mehrfach verfilmt) von Richard Matheson, SCHWARZE SPIEGEL (1951) von Arno Schmidt und DIE WAND (1963) von Marlen Haushofer.

 

 

Die österreichische Schriftstellerin Marlen Haushofer (1920 – 1970) war es auch, welche diesem literarischen Motiv ein weibliches Gesicht verlieh. Bis zum Erscheinen ihres Romans waren es nämlich vor allem (wenn nicht gar ausschließlich) Männer gewesen, die sich als die letzten ihrer Art sahen.

Die Berichterstatterin in DIE WAND ist eine namenlos bleibende Frau mittleren Alters, die eines Morgens aufwacht und sich nicht nur von dem befreundeten Ehepaar bei dem sie übernachtet hat alleingelassen findet, sondern bei näherer Erkundung der Umgebung auch erkennen muss, dass sie unter einer unsichtbaren, nichtsdestotrotz undurchdringlichen Kuppel gefangen ist. Während innerhalb dieser „Glasmauer“ alles „normal“ erscheint, gibt es „draußen“ offenbar keinerlei Leben mehr.

Über mehrere Jahre hinweg fristet sie ein entbehrungsreiches, arbeitsintensives Robinson-Leben, als „Gefährten“ besitzt sie lediglich einen Hund, eine Katze, eine Kuh und einen Stier. Ab und an zeigen sich einige Vögel, doch von der Welt jenseits der Wand erfährt sie nichts – und will sie auch nichts wissen. Als gegen Ende ihres Berichts plötzlich und unerwartet ein Mann auftaucht, kippt innerhalb kürzester Zeit das Geschehen gleich mehrfach: der Mann ist ein totbringender Eindringling (für Stier und Hund), der wiederum getötet werden muss, um das Überleben der Frau zu sichern. Danach ist die Trauer um den Hund größer als die um eine (theoretisch) verpasste Chance auf einen Mitmenschen. Auch das letzte Quentchen Mitgefühl ist erstorben: „Es wurde eine helle Sternennacht, und der Wind fiel kalt von den Felsen herab. Aber ich war kälter als der Wind und fror nicht.“

Es sind dies Sätze einer Prosa, die an der Oberfläche ruhig und unaufgeregt daherkommt, die Stimmungen und Gefühle in einer Art beschreibt, die eine unendliche Distanz schafft und gleichzeitig den emotionalen, fast autobiographischen Bezug der Autorin zu ihrer Figur (in anderen Werken auch zu ihren Figuren) offenlegt. Marlen Haushofer hat sich mit DIE WAND ihre verwundete Seele aus der Brust gerissen und sie ihren Lesern dargebracht – die dieses Opfer natürlich erst Jahrzehnte nach ihrem frühen Tod annahmen.

 Herrmann Ibendorf

www.temporamores.de

 

Für Datenhungrige:

Deutsche Erstausgabe:

Marlen Haushofer

DIE WAND. Roman.

Gütersloh, Mohn, 1963, 265 S.

 

Taschenbuchausgabe:

 

    München, List, 2012,  288 S.

    ISBN 978-3-548-61066-5

 

 

 

 

 

 

 

Verfilmung:

DIE WAND

2012 von Julian Roman Polsler mit Martina Gedeck in der Hauptrolle

 

John Brunner – Schafe blicken auf

SCHAFE BLICKEN AUF (THE SHEEP LOOK UP), John Brunners Roman des Untergangs der menschlichen Zivilisation (oder gar der ganzen Welt?) gehört zu den großen Meisterwerken der modernen Science Fiction.

 

Die Schafe blicken auf, sind hungrig, nicht gefüttert,

Allein vom Wind gebläht, widerlichem Dunst, darin sie stöbern,

Im Leibe Moder, und ringsum Fäulnis schwillt

MILTON, Lycidas

 

 

Wie bei einem Kaleidoskop oder Puzzle setzt Brunner aus einer Vielzahl an Handlungssträngen, Ein­zelschicksalen, Episoden und Nachrichtenfetzen eine erschreckend anschauliche Vision unserer Zukunft zusammen. Furchtbare Umweltverschmutzung und Naturzerstörung lassen ganze Landstriche absterben und unbewohnbar werden; das Mekong-Delta wird zur Wüste, das Mittelmeer ist nur noch eine tote Brühe, ebenso die Großen Seen in Amerika. Davon sind auch die Lebensgewohnheiten der Menschen massiv betroffen: Wegen der hohen Luftverschmutzung können Großstadtbewohner nicht mehr ohne Filtermasken aus dem Haus, das Leitungswasser zum Trinken oder auch nur zum Waschen zu benutzen, birgt ein unkalkulierbares Risiko, die meisten Kinder unter zehn Jahren sind krank, immer mehr Bakterien und Viren sind ebenso resistent gegen die bekannten Medikamente wie die Insekten gegen erlaubte und verbotene Insektizide. Wie Mensch und Umwelt auf solche Prämissen reagieren, wird in Brunners Buch anschaulich geschildert.

Über das Inhaltliche hinaus ist SCHAFE BLICKEN AUF auch ein literarisch überzeugendes Werk. Die Handlung ist wie ein heruntergefallener Spiegel in unzählige Teile zersplittert, die Anzahl der Personen übersteigt jedes nachvollziehbare Maß. Die vielen nebeneinander herlaufenden Handlungsstränge fügen sich erst am Ende annähernd wieder zusammen – die zusammengelegten Scherben zeigen dann das ganze Bild, wenngleich verzerrt und mit Sprunglinien. Brunner bildet hier stilistisch ab, wie die Welt wirklich funktioniert: Es gibt keine rettenden Helden, keine Alleinschuldigen – wir alle sind die Täter, wir alle sind die Opfer.

Besonders erschreckend ist es, wie nah an der Realität dieses Buch mittlerweile ist. Die 1972 schon erkennbaren Tendenzen, die Brunner in eine nahe Zukunft extrapolierte, er­reichen heute ihren „Ereignishorizont“. Von allen möglichen „Weltuntergängen“ ist der hier beschriebene wohl derjenige, dessen Eintritt am wahrscheinlichsten ist – und den wir am Leichtesten hätten verhindern können.

Herrmann Ibendorf

www.temporamores.de

 

Für Datenhungrige:

Deutsche Erstausgabe:

John Brunner

SCHAFE BLICKEN AUF. Roman.

(The Sheep Look Up / 1972)

Ü: Horst Pukallus.

München, Heyne, 1978, 416 S.

 

Nachauflage:

 

 

 

 

 

 

   Mit einem Vorwort des Herausgebers Wolfgang Jeschke

   München, Heyne, 1997, 527 S.

   Hardcover in der Reihe HIGH 8000